Arbeitspflicht und zumutbare Erwerbstätigkeit nach der Scheidung
Im Scheidungsverfahren ist zu prüfen, ob und inwieweit dem Ehegatten, der durch die Scheidung nunmehr von seiner Verpflichtung zum Unterhalt des bisherigen Haushalts entbunden ist, zugemutet werden kann, seine freigewordene Arbeitskraft anderweitig zu investieren und seine Erwerbstätigkeit wieder aufzunehmen oder auszuweiten.
Denn das Ziel der finanziellen Unabhängigkeit der Ehegatten, insbesondere derjenigen, die bisher nicht oder nur in Teilzeit erwerbstätig waren, gewinnt an Bedeutung (5A_191/2021; BGE 147 III 249).
- Der Grundsatz der finanziellen Unabhängigkeit hat Vorrang vor der Unterhaltspflicht (5A_489/2022 E. 5.2.2; 5A_191/2021).
- Die Verpflichtung zu arbeiten — um finanziell so unabhängig wie möglich zu sein — ist ein allgemeiner Grundsatz des Unterhaltsrechts (BGE 147 III 301 E. 6.2; 5A_191/2021).
Siehe auch die Pressemitteilung des Bundesgerichts vom 2. März 2021.
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Kurz gesagt, Müssiggang und die Bequemlichkeit, unterhalten zu werden, können keinen Vorrang vor der finanziellen Unabhängigkeit haben, die von den Eheleuten erwartet werden kann, der/die in der Lage ist, Einkommen zu erzielen (BGE 147 III 265 E. 7. 3).
Dabei geht es zum einen um die Frage, ob einer Person die Aufnahme oder Ausweitung einer Erwerbstätigkeit zumutbar ist, insbesondere unter Berücksichtigung ihrer Ausbildung, ihres Alters und ihres Gesundheitszustands. Andererseits muss das Gericht feststellen, ob die Person tatsächlich die Möglichkeit hat, die so bestimmte Tätigkeit auszuüben, und welches Einkommen sie damit erzielen kann, wobei die oben genannten subjektiven Umstände sowie der Arbeitsmarkt zu berücksichtigen sind. Gegebenenfalls wird das Gericht ein hypothetisches Einkommen miteinziehen (5A_944/2021).
Eine dauerhafte Arbeitsunfähigkeit, die durch ein detailliertes Arztzeugnis belegt wird, kann ausreichen, um zu zeigen, dass die betreffende Person tatsächlich keine Arbeit mehr finden kann (5A_88/2023, Erw. 3.3.3 ; 5A_584/2022). Zum Beweiswert eines ärztlichen Zeugnisses siehe 5A_88/2023.
Zwar steht es jedem Elternteil frei, sein Arbeitspensum zu verringern oder die Arbeit aufzugeben, aber nicht auf Kosten der Kinder. Grundsätzlich und vorbehaltlich der Schulstufen (siehe unten) ist die freiwillige Reduzierung der Erwerbstätigkeit durch einen Elternteil nur dann erlaubt, wenn der Lebensstandard der unterhaltsberechtigten Kinder gesichert ist (5A_273/2018).
Das Bundesgericht hat entschieden, dass das Alter nicht mehr ausschlaggebend ist, um zu entscheiden, ob eine Person (wieder) arbeiten oder ihr Arbeitspensum erhöhen kann (5A_907/2018; 5A_104/2018). Früher ging er davon aus, dass man ab über 50 Jahren nicht mehr weiterarbeiten oder sein Arbeitspensum erhöhen kann. Heute muss jeder Fall einzeln geprüft werden.
Wenn behauptet wird, dass der Gesundheitszustand eine Arbeit nicht zulässt, reicht die Vorlage irgendeines Arztzeugnisses nicht aus. Entscheidend für den Beweiswert eines ärztlichen Berichts ist nicht seine Herkunft oder Bezeichnung, sondern sein Inhalt. Insbesondere ist es wichtig, dass die Beschreibung der medizinischen Interferenzen klar ist und dass die Schlussfolgerungen des Arztes gut begründet sind (5A_584/2022 E. 3.1.4).
Grundsätzlich muss eine «angemessene Frist» (einige Monate) eingeräumt werden, um die Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit oder die Erhöhung des Arbeitspensums zu ermöglichen (5A_489/2022 E. 5.3.2).
Die genaue Dauer der Übergangsfrist für die Wiederaufnahme oder Ausweitung einer Erwerbstätigkeit hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Im Fall einer 44-jährigen Frau, die verschiedene Sprachen spricht, eine Ausbildung im Bankensektor hat, über langjährige Berufserfahrung in diesem Bereich verfügt und bereits Kinder hat, scheint eine Übergangszeit von sechs Monaten zu lang zu sein (5A _513/2023).
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Das Gericht kann aber auch keine Frist für die Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit oder die Erhöhung des Arbeitspensums zulassen. Beispielsweise ist es nicht willkürlich, einem Vater, der Sozialhilfe bezieht, aber keine bekannte gesundheitliche Beeinträchtigung hat, die ihn an der Ausübung einer Erwerbstätigkeit hindern würde, ein hypothetisches Einkommen ohne Anpassungsfrist zuzugestehen (5A_555/2023 E. 9).
Ein paar Beispiele:
- Alternierende Obhut (50/50) führt grundsätzlich zu einer 75%igen Arbeitspflicht, sobald das Kind das schulpflichtige Alter erreicht hat (5A_252/2023). Zuvor war das Bundesgericht davon ausgegangen, dass die Erwartung eher darin bestand, 50% arbeiten zu müssen (5A_484/2020; 5A_472/2019).
- Für ein Beispiel einer 54-jährigen Ehefrau, die sich nach 20 Jahren Ehe scheiden lässt, siehe (5A_98/2013).
- Ein Beispiel für eine 51-jährige Ehefrau, die ihre Arbeitszeit von 60 % auf 100 % erhöhen muss, siehe (5A_474/2013).
- Eine Ehefrau, die ein Lehramtsstudium absolviert hat, muss nach Beendigung der Arbeitslosigkeit im Alter von 57 Jahren wieder zu 50 % erwerbstätig sein können (5A_97/2017; 5A_114/2017).
- Eine 60-jährige Frau mit guter Ausbildung und Sprachkenntnissen, die vor der Trennung in Teilzeit gearbeitet hat und für eine Vermittlung nach dem Arbeitslosengesetz in Frage kommt, muss diese Teilzeitarbeit wieder aufnehmen können (5A_526/2014).
- Nach 16 Jahren Ehe soll eine 47-jährige Frau mit gesundheitlichen Problemen und ohne Berufsausbildung wieder zu 50 % erwerbstätig sein können (5A_263/2019).
- Keine Verpflichtung zur Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit einer 50-jährigen Ehefrau (lange Ehe und komfortable finanzielle Situation des Ehemannes) (5A_267/2018).
- Ein Ehegatte, der 41 Jahre alt, gesund und von der Kinderbetreuung voll entlastet ist und zu 20 % arbeitet, muss seine Erwerbstätigkeit auf 100 % ausweiten können (BGE 128 III 65; 130 III 537).
- Selbst wenn die Eheleute einen sehr komfortablen Lebensstandard hatten, kann nach der Scheidung von einem der Ehepartner verlangt werden, dass er arbeitet, selbst wenn er nur ein geringes Einkommen erzielt, das nicht mit seinem früheren sozialen Status vereinbar ist, da der Grundsatz gilt, dass jeder für seinen Unterhalt selbst aufkommen muss, selbst wenn dies zu einem «sozialen Abstieg» führt (BGE 147 III 301 E. 6.2).
- Eine seit sechs Jahren getrennt lebende Ehefrau kann (muss) zu 100 % arbeiten (BGE 148 III 161)
- Eine 53-jährige Ehefrau, die weder gesundheitliche Probleme noch unterhaltsberechtigte Kinder hat und während der 20-jährigen Ehe nicht gearbeitet hat, muss nach der Scheidung zu 100 % arbeiten. Ihre erfolglose Arbeitssuche während der Trennungszeit ist nicht ausschlaggebend (5A_464/2022).
Andererseits, wenn Kinder vorhanden sind und nach einer Übergangsphase oder bei fehlendem Einverständnis der Eltern, wie die Kinder betreut werden sollen, gilt das Schulstufenmodell (BGE 144 III 481; 5A_782/2019).
Der Elternteil, der die Kinder betreut, muss grundsätzlich erwerbstätig sein (5A_384/2018 und die Pressemitteilung).
Konkret vertritt das Bundesgericht die Auffassung, dass ein Elternteil, der nicht bereits berufstätig ist, nicht verpflichtet ist, wieder zu arbeiten oder sein Arbeitspensum zu erhöhen, solange das jüngste Kind das Schulalter (4 Jahre) noch nicht erreicht hat. Es kann ihm jedoch zugemutet werden, mindestens 50 % (75% bei ausgeglichenem alternierendem Sorgerecht (5A_252/2023) zu arbeiten, wenn das jüngste Kind das Schulalter erreicht hat und bis zum Alter von 12 Jahren und 80 % bis zum Alter von 16 Jahren und danach 100 %.
Die Schulstufenregel gilt auch für unverheiratete Eltern (5A_454/2017, E. 7.1.1). Dennoch gilt: Wenn die Eltern nicht verheiratet sind, hat ein Elternteil keine finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem anderen und es sind keine Unterhaltszahlungen zwischen Erwachsenen fällig.
Die Regel ist nicht absolut und muss an den konkreten Fall angepasst werden können, z. B. wenn die Mutter sich um ein Kind mit Down-Syndrom kümmern muss (5A_745/2022).
Wenn der Elternteil bereits arbeitet, entweder zum vollen oder reduzierten Satz, muss er/sie weiter arbeiten und kann seine/ihre Arbeit wegen der erwähnten Regeln zum Bildungsniveau nicht einstellen oder reduzieren (Waadtländer Rechtsprechung, CACI 31. Januar 2022).
Weigert sich der Elternteil trotz konkreter Möglichkeiten zu arbeiten, wird ein hypothetisches Einkommen einbehalten. Die Betreuung mehrerer Kinder oder der Gesundheitszustand eines Kindes kann eine Abweichung von der Schulstufenregelung rechtfertigen (BGE 147 III 249; 5A_963/2018).
Bei einer angespannten finanziellen Situation und wenn beide Elternteile vor der Geburt des Kindes — und auch pünktlich nach der Geburt — gearbeitet haben, muss die Person, die ihre Arbeitszeit nach der Geburt reduziert hat, nach einigen Monaten (9 Monate sind ein grosszügiger Zeitraum) wieder eine Erwerbstätigkeit aufnehmen können (5A_329/2019).
Kommt während der Trennung ein neues Kind zur Welt (mit einer anderen Person als der unterhaltspflichtigen Person), ändert sich die Rechtsprechung: Bis vor kurzem galt als gesichert, dass :
- gelten die Regeln für die Schulstufen nicht, wenn es sich um das neue Kind handelt (BGE 144 III 481; 5A_926/2019).
- In diesen Fällen kann die Mutter nur im ersten Jahr nach der Geburt des neuen Kindes ihr Arbeitspensum reduzieren oder nicht arbeiten (BGE 144 III 481 E. 4.7.5).
- Denn es geht darum, kein Ungleichgewicht oder keine Ungleichbehandlung mit dem Kind oder den Kindern aus der früheren Ehe zu schaffen (BGE 144 III 481 E. 4.7.5; 137 III 59 E. 4.2.3).
- Ein Jahr nach der Geburt des neuen Kindes wird von der Mutter erwartet, dass sie ihre Erwerbstätigkeit zu einem Satz wieder aufnimmt, der von Fall zu Fall entschieden werden muss (5A_780/2022 E. 3.2).
In seinem Urteil 5A_723/2023 relativiert das Bundesgericht jedoch seine frühere Rechtsprechung, und zwar nicht unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit der Kinder, sondern unter dem Gesichtspunkt der tatsächlichen Möglichkeiten, ein angemessenes Einkommen erzielen zu können (aufgrund der Geburt eines neuen Kindes hat die Mutter geringere Chancen, eine Stelle zu den üblichen, nach Schulstufen festgelegten Ansätzen zu finden).
Zur Vertiefung der Frage der Unterhaltszahlungen im Rahmen von Patchworkfamilien siehe den (kostenpflichtigen) Artikel von Tanja Coskun-Ivanovic: «Unterhaltsrecht in Fortsetzungsfamilien» (2023).
Arbeitslosigkeit
Eine Person, die Leistungen von der Arbeitslosenkasse beziehen möchte, muss alle zumutbaren Massnahmen ergreifen, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder die Dauer der Arbeitslosigkeit zu minimieren. Insbesondere muss sie sich um eine Stelle bemühen und zumutbare Stellen unverzüglich annehmen. Die Kriterien der Arbeitslosenversicherung lassen sich nicht unverändert auf das Familienrecht übertragen. Zusätzliche Anstrengungen können im Familienrecht insbesondere bei Unterhaltsverpflichtungen für minderjährige Kinder und bei bescheidenen finanziellen Verhältnissen verlangt werden (5A_983/2021).