Elterliches Sorgerecht
Das Prinzip der elterlichen Sorge
Das elterliche Sorgerecht ist die von den Eltern ausgeübte Befugnis, alle wichtigen Entscheidungen in Bezug auf ihre Kinder zu treffen (unter anderem Wohnort/Heimat, Bildung, Religion, Fürsorge, Sittlichkeit, Vermögensverwaltung).
Nach dem Gesetz (Art. 301 ZGB): ” Die Eltern leiten im Blick auf das Wohl des Kindes seine Pflege und Erziehung und treffen unter Vorbehalt seiner eigenen Handlungsfähigkeit die nötigen Entscheidungen.»
Darüber hinaus verleiht Art. 304 Abs. 1 ZGB dem Träger des elterlichen Sorgerechts die Fähigkeit, in seinem Namen die Rechte eines minderjährigen Kindes auszuüben und sie vor Gericht oder in gerichtlichen Verfahren (z.B. Auszahlung von Renten) geltend zu machen.
Die elterliche Sorge muss immer im Interesse des Kindes ausgeübt werden. Siehe als Beispiel einen Vater, der dem Kind Gebetszeiten auferlegt (5A_389/2022).
Im Prinzip bleibt das elterliche Sorgerecht auch nach Trennung, Scheidung oder Auflösung der Partnerschaft gemeinsam, wenn ein Kind des Partners adoptiert wurde (5A_701/2017).
Dieser Grundsatz ist den Artikeln 133, 296 Abs. 2, 298 a bis 298 e ZGB entnommen.
Die Obhut für das Kind betrifft die fast tägliche Betreuung des Kindes und ist nicht mit der elterlichen Sorge zu verwechseln, die ihrerseits wichtige Entscheidungen in Bezug auf das Kind betrifft. Wenn also – im Prinzip – die elterliche Sorge nach einer Scheidung oder Trennung gemeinsam bleibt, kann daraus nicht abgeleitet werden, dass dies bedeutet, dass das Sorgerecht abwechselnd oder gemeinsam ausgeübt wird (5A_281/2020 E. 4.2).
Die alleinige Zuweisung der elterlichen Sorge an einen Elternteil
Nur ausnahmsweise, wenn die Interessen des Kindes es erfordern, wird das elterliche Sorgerecht nicht (oder nicht mehr) gemeinsam ausgeübt (5A_64/2022, 5A_594/2018, 5A_617/2020). Die Eltern können vereinbaren, dass es in ihrem speziellen Fall notwendig ist, dass das elterliche Sorgerecht nicht gemeinsam ist.
Die Zuweisung der alleinigen elterlichen Sorge an einen Elternteil muss eine eng begrenzte Ausnahme bleiben (5A_64/2022, BGE 141 III 472 E. 4.7).
Eine solche Ausnahme ist insbesondere dann denkbar, wenn zwischen den Eltern ein erheblicher und dauerhafter Konflikt besteht oder die Eltern dauerhaft nicht in der Lage sind, miteinander Entscheidungen über das Kindes zu treffen, sofern dies einen negativen Einfluss auf das Kind hat und die alleinige elterliche Sorge eine Verbesserung der Situation erwarten lässt. Wenn die Eltern offensichtlich nicht über die nötige Klarheit und Reife verfügen, um sich in den wichtigsten Fragen, die das Kind betreffen, ein Mindestmass an Übereinstimmung zu verschaffen, und es ihnen nicht gelingt, in gewissem Umfang zu kooperieren, kann man häufig, aber nicht immer, davon ausgehen, dass die elterliche Sorge nicht gemeinsam ausgeübt werden sollte, da dies fast unweigerlich eine Belastung für das Kind darstellen würde, die sich noch verschärft, sobald das Kind merkt, dass seine Eltern sich nicht einig sind. Diese Situation birgt auch konkrete und schädliche Risiken für das Kind, wie die Verzögerung wichtiger Entscheidungen, z. B. über die medizinische Betreuung oder die Notwendigkeit einer medizinischen Behandlung (5A_320/2022, Erw. 7.3.1.3
5A_64/2022, 5A_277/2021).
Wenn es tatsächlich im Interesse des Kindes liegt, wird das Gericht zustimmen, das elterliche Sorgerecht nur einem Elternteil zuzuschreiben (5A_346/2016).
Es steht dem Gericht völlig frei, die gemeinsame elterliche Sorge nach dem Gesetz beizubehalten oder ausnahmsweise nur einem der beiden Elternteile die elterliche Sorge zu übertragen, unabhängig von der Konvention der Eltern oder der Empfehlung des Beistands des Kindes (5A_320/2022; Erw. 7.3.1.3).
Jeder Fall ist besonders und muss mit grosser Sorgfalt geprüft werden. Das Gericht fordert in der Regel eine Sozialuntersuchung und einen Bericht des Sozialdienstes an, um ihm bei der Entscheidung zu helfen. Das Gericht kann auch ein Sachverständigengutachten anfordern. Ein Gutachten, das mehr als drei Jahre alt ist, ist manchmal nicht mehr aktuell und muss erneuert werden (5A_669/2021). Es bleibt dem Gericht jedoch immer freigestellt, ob es den Empfehlungen der Sozialdienste (5A_277/2021; 5A_271/2019 und 5A_756/2019) oder der Meinung des Sachverständigen (5A_415/2020) folgt oder nicht. Das Kind muss grundsätzlich angehört und seine Wünsche berücksichtigt werden, bevor entschieden wird, die gemeinsame elterliche Sorge nicht beizubehalten oder sie aufzuheben (5A_131/2021).
Zur Vertiefung des Themas siehe den (kostenpflichtigen) Artikel, veröffentlicht von Anaïs Hauser und Carolina Tonder: “Die Zuweisung der alleinigen elterlichen Sorge im Streitfall”.
Entzug der elterlichen Sorge
Wenn es das Interesse und das Wohl des Kindes erfordern, kann die elterliche Sorge ganz oder teilweise, dauerhaft oder vorübergehend entzogen werden.
Eine Entscheidung, einem Elternteil die elterliche Sorge zu entziehen, kann nur getroffen werden, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist. Diese Voraussetzung ist aber nicht erforderlich, um zu entscheiden an wen die elterliche Sorge übertragen wird (5A_277/2021, E. 4.1).
Zum Beispiel Eltern, die nur über Dritte miteinander kommunizieren (5A_194/2020), das 9-jährige Kind, das in einen schweren Loyalitätskonflikt gebracht wird (5A_729/2020), das Kind, das an einer unbehandelten psychischen Störung leidet und dringend in ein Heim gebracht werden muss (5A_281/2020), das 14-jährige Kind, das von seiner Mutter völlig isoliert gehalten wird, was zu schwerwiegenden Entwicklungsdefiziten führt (das Kind kann weder mit Messer und Gabel richtig umgehen, noch seine persönliche Hygiene regeln : 5A_968/2020), zu häufiger Alkoholmissbrauch (5A_886/2018), die Mutter wird vom Vater der Kinder getötet (BGE 119 II 9), die Eltern planen die Zwangsheirat ihrer minderjährigen Tochter (5A_388/2022).
Die Nichtzahlung von Unterhaltszahlungen ist hingegen kein Grund für eine Änderung der elterlichen Sorge (oder der Obhut), da Entscheidungen in diesem Punkt nicht dazu führen dürfen, einen Elternteil zu bestrafen oder zu sanktionieren (5A_729/2020 Erw. 3.3.5.3). Ebenso darf das Fehlverhalten eines Elternteils keinen Einfluss auf Entscheidungen haben, die nur unter Berücksichtigung des Wohls und des besten Interesses des Kindes getroffen werden dürfen (5A_968/2020).
In dringenden Fällen können vorsorgliche Massnahmen ergriffen werden (5A_916/2019).
Die häufigsten Anwendungsfälle betreffen den vorübergehenden Entzug des Rechts, über den Wohnort des Kindes zu entscheiden – eines der Vorrechte der elterlichen Sorge -, wenn die Gefahr einer Entführung oder des Umzugs des Kindes besteht.
Das Interesse des Kindes
Das Gericht entscheidet ausschliesslich auf der Grundlage der Interessen des Kindes und nicht auf der Grundlage der Wünsche der Eltern. Es gibt jedoch keinen Grund, warum das Gericht ein Übereinkommen, das die Interessen des Kindes gebührend berücksichtigt (5A_346/2016), nicht ratifizieren (nicht annehmen) sollte.
Die Eltern müssen alle Angelegenheiten der Kinder gemeinsam regeln, ohne dass ein Elternteil eine ausschlaggebende Stimme hat. Die familiäre oder elterliche Autonomie hat Vorrang vor staatlichen Eingriffen (Gerichte, Sozialdienste)(BGE 146 III 313, Erw. 6.2.3 und BGE 144 III 481, Erw. 4.5).
Kinderschutz
Der Staat muss jedoch eingreifen (von Amtes wegen, auf Antrag eines Elternteils oder auf Antrag des Kindes selbst), wenn die Gesundheit oder das Wohl des Kindes dies erfordert. Dies ist zum Beispiel der Fall, um das Kind in die obligatorische Schule einzuschreiben, ihm ein weiteres Studium zu ermöglichen oder einen Beruf auswählen zu lassen.
Der Schutz der Gesundheit des Kindes nimmt einen besonderen Platz ein. Staatliche Interventionen erfolgen in Fällen von körperlichem und sexuellem Missbrauch, mangelnder persönlicher Betreuung, unzureichender Gesundheitsvorsorge, mangelnder Hygiene in Kleidung und Wohnung, Unterernährung, Verweigerung von medizinischer Behandlung oder Medikamenten, Genitalbeschneidung (wenn die Eltern nicht zustimmen), mangelndem Schutz vor Betäubungsmitteln und Verweigerung von Präventivmassnahmen (5A_789/2019).
Im gleichen Urteil wird präzisiert, dass bei der Impfung eines Kindes grundsätzlich die Empfehlungen des BAG zu befolgen sind und dass die staatlichen Stellen oder die Gerichte auf Antrag eines Elternteils oder des Kindes selbst auf der Grundlage von Art. 307 ZGB eingreifen können.
Um vom Rechtsprinzip abzuweichen und die elterliche Sorgerecht einem Elternteil zuzuschreiben, muss ein schwerwiegender, ernsthafter und dauerhafter Konflikt zwischen den Eltern oder eine andauernde Unfähigkeit zur Kommunikation über Angelegenheiten, die die Kinder betreffen, vorliegen (5A_106/2019).
Blosse Streitigkeiten, wie sie in den meisten Familien bestehen, insbesondere in Fällen von Trennung oder Scheidung, sind kein Grund, die alleinige elterliche Sorge zu übertragen (5A_277/2021 ; 5A_701/2017).
Zur Erinnerung an die Grundsätze: 5A_320/2022, Erw. 7.3.1.3 ; 5A_277/2021 und 5A_271/2019.
- Wird die elterliche Sorgerecht entgegen der Regel nur einem Elternteil zugewiesen, behält der andere Elternteil das Recht auf regelmässigen Kontakt zu seinem Kind (Art. 273 ZGB).
- Wurde einem Elternteil die elterliche Sorge übertragen, muss der Elternteil, dem die elterliche Sorge nicht zusteht, dennoch für eine angemessene Erziehung des Kindes sorgen (5A_664/2015).
- Wenn das elterliche Sorgerecht nur einem Elternteil übertragen wurde, hat der andere Elternteil dennoch Anspruch auf Information und Ausjunft, bevor eine für das Kind wichtige Entscheidung getroffen wird. Der andere Elternteil kann gemäss Art. 275a ZGB auch von Dritten (z.B. Ärzten, Schule) Informationen verlangen.