Anhörung des Kindes
Grundsatz der Anhörung des Kindes
In einem einvernehmlichen Verfahren verzichtet das Gericht häufig auf die Anhörung des Kindes (BGE 146 III 203), aber es steht ihm immer noch frei, über die Anhörung des Kindes zu entscheiden, da der gesetzliche Grundsatz lautet, dass das Kind angehört werden muss, bevor eine Entscheidung getroffen wird, die es betrifft. Wenn die dem Gericht in einer einvernehmlichen Scheidung vorgeschlagene Vereinbarung fair und praktikabel erscheint, gibt es keinen Grund zur Annahme, dass das Wohl des Kindes von den Eltern nicht angemessen berücksichtigt wurde. Laut einer Studie aus dem Jahr 2006 wurden nur 8 % der Kinder zwischen 7 und 12 Jahren angehört, bei Kindern zwischen 13 und 18 Jahren waren es 19,3 %. Eine neuere Studie (2012) bestätigt, dass die Gerichte in der Romandie dazu tendieren, bei einvernehmlichen Verfahren auf die Anhörung des Kindes zu verzichten.
Zur Bedeutung der Anhörung des Kindes siehe den Artikel von Gaëlle Droz-Sauthier . “Elterliche Autorität, Selbstbestimmung des Kindes und Eingreifen des Staates: Welches Maß ist richtig?” (2024).
Tatsächlich heisst es in Art. 298 Abs. 1 ZPO: «Das Kind wird durch das Gericht oder durch eine beauftragte Drittperson in geeigneter Weise persönlich angehört (Sozialdienste), sofern sein Alter oder andere wichtige Gründe nicht dagegen sprechen».
Nach den gesetzlichen Grundsätzen ist das Gericht verpflichtet, das Kind nicht nur dann anzuhören, wenn das Kind oder seine Eltern dies beantragen, sondern auch in allen anderen Fällen, in denen kein wichtiger Grund dagegen spricht (5A_975/2022 ; 5A_277/2021). Das Bundesgericht betont regelmässig die Relevanz des Rechts des Kindes auf Anhörung (BGE 146 III 203 E. 3.3.2; 5A_723/2019).
Das Kind kann direkt vom Gericht oder von Dritten, die vom Gericht ernannt werden (Sozialdienste oder ein Experte 5A_895/2022; E. 12.2), angehört werden.
Grundsätzlich muss das Gericht die Eltern persönlich anhören, wenn eine Frage, die minderjährige Kinder betrifft, vom Gericht entschieden werden muss (Art. 298 Abs. 1 ZPO; 5A_895/2022 E. 8.1).
Das Gericht muss das Kind ab dem sechsten Lebensjahr anhören (5A_131/2021 E. 3.2.3), es sei denn, das Gericht hält es als notwendig, die Anhörung an einen Kinderspezialisten (in der Regel einen Delegierten des Jugendschutzdienstes, Service de la protection de la jeunesse auf Französisch) zu delegieren.
Das Bundesgericht erinnert häufig an diese Grundsätze (5A_64/2022).
Wenn es das Gericht für notwendig erachtet, kann es auch nicht gemeinsame Kinder anhören (BGE 131 III 553).
Das Gericht hört das Kind alleine an, ohne die anwesenden Eltern oder Anwälte. Das Gericht stellt sicher, dass das Kind sich wohl fühlt, so dass es so minimal wie möglich eingeschüchtert wird und dass die Antworten des Kindes so wahrheitsgetreu wie möglich sind. Aus diesen Gründen findet die Anhörung nicht in den Gerichtssälen des Gerichts statt, sondern vorzugsweise ausserhalb des Justizgebäude oder gegebenenfalls im persönlichen Büro des Richters. Unter keinen Umständen darf diese Anhörung in der Wohnung des Kindes stattfinden. Eine neutrale Stelle wird empfohlen, um das Risiko von Rückwirkungen auf die Meinung des Kindes so weit wie möglich zu vermeiden.
Das Gericht — wie auch der Elternteil! — müssen darauf achten, das Kind nicht in einen Loyalitätskonflikt zu bringen, indem sie ihm direkte Fragen stellen, die es nicht beantworten kann.
Beispielsweise wird das Gericht ein kleines Kind niemals fragen, ob es lieber bei seinem Vater oder seiner Mutter leben möchte. Solche Fragen bringen das Kind in einen Loyalitätskonflikt und können es nur verwirren: Es liebt beide Eltern und kann sich nicht für einen der beiden entscheiden.
Grundsätzlich wird das Kind nur einmal im Verfahren angehört, vorbehaltlich einer wesentlichen Veränderung des Sachverhalts seit der letzten Anhörung (5A_95/2023 E. 3.1.2; 5A_164/2019 E. 3.3.2).
Siehe auch die Relevanz des Glaubwürdigkeitsgutachtens für die Anhörung sehr junger Kinder (4 und 6 Jahre) und, je nach den Umständen, die Notwendigkeit, sie erneut zu hören oder nicht (1B_615/2022).
Wenn es sich um ein 12-jähriges Kind handelt, ist es nicht willkürlich, sich bei der Regelung der Obhut hauptsächlich auf den Willen des Kindes zu stützen (5A_222/2021).
Die Eigenheiten der Anhörung des Kindes
Das Kind muss die Gründe für seine Anhörung kennen. Es kann sich weigern, angehört zu werden, und es kann auch gegen eine Aufzeichnung seiner Aussagen Einspruch erheben. In diesem Fall werden die Ergebnisse den Eltern schriftlich mitgeteilt. Das Gericht ist nicht in der Lage, Missbrauchserklärungen vertraulich zu behandeln, selbst wenn das Kind darum bittet (das Gericht ist verpflichtet, die Sozialdienste und/oder den Bundesanwalt zu alarmieren). Das Kind wird jedoch informiert und gefragt, ob es mit dem Bericht einverstanden ist, nachdem es mit ihm besprochen wurde.
Die Anhörung der Kinder kann bereits im Stadium der vorsorglichen Massnahmen (BGE 126 III 497) oder im Berufungsverfahren erfolgen, wenn sich die Umstände wesentlich verändert haben (5A_911/2012).
Je nach den Umständen kann die Anhörung eines Kindes unter 6 Jahren erforderlich sein, insbesondere wenn das jüngste Kind in Anwesenheit von Geschwistern fast 6 Jahre alt ist (5A_723/2019).
Ab dem Alter von 11-12 Jahren kann das Kind selbst eine Anhörung fordern (BGE 131 III 553).
Wenn die Anhörung des Kindes relativ alt ist, sollte das Gericht das Kind erneut anhören, wenn angenommen werden kann, dass sich seine Meinung geändert hat (5A_454/2019; 5A_971/2015).
«Sonstigen wichtigen Gründen», die eine Anhörung des Kindes verhindern würden, sind verschiedene Situationen denkbar:
- Es hat keinen Sinn, ein Kind anzuhören, das geistig beeinträchtigt ist oder dessen Entwicklung so verzögert ist, dass es unmöglich wäre, seinen Aussagen Gewicht zu verleihen (BGE 131 III 553).
- Es besteht die reale und begründete Angst, dass das Kind erhebliche Repressalien erleiden wird, wenn es sich äussern würde.
- Der langfristige Auslandsaufenthalt des Kindes (5A_729/2020).
- Der Schaden, den die Anhörung der Gesundheit des Kindes zufügen könnte (5A_993/2016) und die besondere Dringlichkeit der zu treffenden Entscheidungen.
In jedem Verfahren ist das Kind zwischen Vater und Mutter hin- und hergerissen und befindet sich in einem latenten oder offenen Loyalitätskonflikt, der es in unterschiedlichem Masse belastet. Diese Situation ist leider häufig, aber dieser besondere Stress reicht nicht aus, um den Verzicht auf die Anhörung des Kindes zu rechtfertigen; es sei denn, es kann nachgewiesen werden, dass eine solche Anhörung die körperliche oder geistige Gesundheit des Kindes ernsthaft schädigen würde (BGE 131 III 553; 5A_2/2016; 5C.63/2005).
Für einen schweren Fall eines Loyalitätskonflikts, in dem auf die Anhörung des Kindes verzichtet wurde, siehe 5P.214/2005.